Bei dem folgenden Text handelt es sich um meine Vorlage für einen Vortrag, den ich vor zwei Jahren in Steinhude gehalten habe.
Die Orte der „Seeprovinz“
„Steinhude und Hagenburg sind die beiden einzigen Flecken unseres Landes und die beiden wichtigsten Orte im nördlichen Teile desselben. Dieses Gebiet (...) in der Niederung des Steinhuder Meeres wird im Volksmund gewöhnlich die Seeprovinz genannt. Der Boden ist hier sehr verschieden; man findet Lehm-, Ton-, Sand- und Moorboden, aber üppige Wiesen. An Waldungen sind zu nennen der Forstbezirk Berghoff auf dem Rehburger Höhenzuge, die Schier bei Hagenburg, das Hoheholz bei Steinhude und der Föhrenkamp bei Großenheidorn. (…) Die wichtigsten Erwerbsquellen der Bewohner sind Ackerwirtschaft, Viehzucht, Weberei (Kunstweberei), Fischerei und Handel. Von den übrigen Bewohnern unseres Landes unterscheiden sich die Seeprovinzler durch Kleidung und Sprache. Sie tragen keine Nationaltracht, sondern einfache bürgerliche Kleidung (bei den Frauen in Wölpinghausen finden sich noch vereinzelt eigenartig gestrickte Mützen). Statt des landesüblichen Maike heißt es hier Dirn, statt mi und di aber meck und deck. (…) Die Frauen haben vielfach strohgelbes Haar. Sie müssen gewöhnlich tüchtig mitarbeiten. Durch das übliche Kiepentragen bildet sich bei ihnen nicht selten eine schlechte Körperhaltung aus. An männlichen Vornamen sind gebräuchlich: Dietrich, Konrad, August, Heinrich, Wilhelm, an weiblichen Doris (Dora), Sophie, Marie, Minna, Emma.“So lautet die knappe Beschreibung der Seeprovinz in Wilhelm Wiegmanns „Heimatkunde des Fürstentums Schaumburg-Lippe“ von 1912.
Auf der Suche nach dem Begriff „Seeprovinz“ bin ich hier fündig geworden, danach gibt es ihn noch öfter, aber seltener, als man zunächst annehmen sollte. Was gehört also zur Seeprovinz? Folgt man Wiegmanns Beschreibung von Westen nach Osten, dann waren das Wölpinghausen, Hagenburg, Altenhagen, Steinhude und Großenheidorn. Rein logisch müssten dazu auch Bergkirchen, Wiedenbrügge, Schmalenbruch und Windhorn gehören, aber diese werden nicht erwähnt. Was war aber nun das Besondere dieser „Seeprovinz“, also der Schaumburg-lippischen Orte südlich des Steinhuder Meeres? Und was war das Verbindende - bei allen Unterschieden. Nun, ich bin ja selbst in der Seeprovinz aufgewachsen und mir fällt da sofort etwas ein, aber dazu komme ich später - ein wenig Spannung muss ja sein.
Die Orte der Seeprovinz
STEINHUDE
GROSSENHEIDORN
HAGENBURG UND ALTENHAGEN
WIEDENBRÜGGE, BERGKIRCHEN UND WÖLPINGHAUSEN
Die vier Landschaften
Der Begriff der Landschaft:
„In den historischen Wissenschaften dient „Landschaft“ meist als Ordnungsbegriff, als Kennzeichen eines Raumes, der selbst wiederum durch signifikante Eigenheiten bestimmt ist – oder jeweils aus unterschiedlicher Perspektive zu bestimmen ist: durch Sprache, Institutionen, regional mehr oder minder kohärente Phänomene – Sprachlandschaft, Klosterlandschaft, Kunstlandschaft.“
(Franz J. Felten, u.a. (Hg.), Landschaft(en): Begriffe - Formen - Implikationen (Geschichtliche Landeskunde 68), Stuttgart 2012, S. 2)
DIE PROTOINDUSTRIELLE LANDSCHAFT
Dies war nur ein kurzer Überblick, aber er zeigt, wie unterschiedlich diese Orte waren - und immer noch sind. Da ist Steinhude, der wohl älteste Ort der genannten, ein besonderer Flecken dank seiner Lage am Meer und der damit verbundenen Privilegien. Dann die Bauerndörfer, ebenfalls alle ein wenig verschieden, aber doch mit einer bis im 19. Jahrhundert bestehenden Dominanz der bäuerlichen Bevölkerung, schließlich Hagenburg, Sitz des Amtes und Burgort - der zentrale Ort der „Seeprovinz“ bzw. des Amtes Hagenburg. Wo ist da das Gemeinsame, Verbindende?
Nähern wir uns der Antwort auf diese Frage auf eine vielleicht überraschende Weise. 1951 hatten die Gemeinden des Amtes Hagenburg (und ja, ich weiß, dazu gehören auch noch weitere Orte) einen Einheitswert des Landes von 1747 DM/ha, das war im gesamtschaumburglippischen Kontext der niedrigster Wert, alle anderen Ämter hatten über 2000 DM/ha. Mit anderen Worten: Die Orte des alten Amtes Hagenburg hatten die schlechtesten Böden.
Nun sollte man meinen, dass in der vorindustriellen Gesellschaft die Bodengüte von entscheidender Bedeutung für die Siedlungsdichte war: Gegenden mit schlechten Böden konnten weniger Menschen ernähren als solche mit guten Böden. Wie sah das aber in Schaumburg-Lippe aus? 1836 lebten in Schaumburg-Lippe durchschnittlich 78 Menschen je qkm. Im Amt Bückeburg waren es 75, im Amt Stadthagen 50 - und im Amt Hagenburg 92,5! Also fast doppelt so viele wie im Amt Stadthagen. Oder anders formuliert: Obwohl das Amt Stadthagen fast dreimal so viel Fläche hatte wie das Amt Hagenburg lebten hier nicht einmal 50 % mehr Menschen.
Wir kommen der Sache schon etwas näher, wenn wir uns die Sozialstruktur der Schaumburg-Lippischen Ämter 1836 ansehen, wobei wir nur die Hausbesitzer erfassen können. In den beiden Ämtern Bückeburg und Stadthagen waren 47,5 bzw. 53 % der Haushalte Landwirte, Handwerker 26,5 bzw. 15 %. Im Amt Hagenburg waren dagegen nur 32 % der Haushalte solche von Landwirten, aber 40 % solche von Handwerkern.
Sieht man sich die Dörfer genauer an, dann bildeten nur in zweien die Ackerleute, wie die Landwirte damals hießen, die absolute Mehrheit der Dorfbewohner, /Wiedenbrügge und Altenhagen), in drei weiteren waren sie die größte Gruppe (Großenheidorn, Lindhorst und Großenheidorn). Dagegen war das Handwerk mit über 60 % besonders stark vertreten in Steinhude, Nienbrügge und Niedernholz, bildete aber auch in Bergkirchen, Hagenburg, Pollhagen und Schmalenbruch die größte Gruppe.
Das Handwerk war also in der Seeprovinz die entscheidende ökonomische Basis. Grundlegend war dabei die Leinenweberei, die praktisch in allen Orten betrieben wurde, wobei nur in Steinhude und Großenheidorn die höherwertige Drellweberei betrieben wurde. Aus Bergkirchen gab es übrigens vom dortigen Pastor eine interessante Klage: „Die Gemeinde Bergkirchen müßte volkreicher sein wie sie ist, man duldet aber keine oder doch sehr wenige Einlieger, daher auch Tagelöhner fehlen.“
Die mit Abstand meisten Leinenweber lebten in Steinhude - für Sie hier sicher keine Überraschung, aber sie waren im gesamten Amt Hagenburg zu finden. Nun gibt es noch immer gern die Vorstellung, dass die Leinenweberei eben ein typisches ländliches Gewerbe war. Aber das täuscht. Die Leinenweberei war im vorindustriellen Europa ein verbreitetes Gewerbe, das für die Erwerbsverhältnisse der ländlichen Bevölkerung von großer Bedeutung war und dass - und hier wird es spannend - exportorientiert war! Händler exportierten die hiesige Leinwand über Hamburg u.a. nach Skandinavien, andere Regionen belieferten den transatlantischen Raum.
Oder wie es in der Geschichte Steinhuder heißt:
„Die Steinhuder Weber und ihre Frauen beförderten das Linnen (Leinen) und den Drell in Kiepen oder mit Planwagen nach Hamburg und ins Holsteinische. Das Leinen ging damals bereits über Hamburg oder Bremen nach Holland, ja sogar nach Spanien und Portugal. Die Bemühungen des Grafen um diesen Wirtschaftszweig zeigten sich auch darin, dass er versuchte, den Flachsanbau durch Gründung einer herrschaftlichen Leinenmanufaktur zu fördern.“
Mehr noch: In den 1970er Jahren setzte eine internationale Debatte um die „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ oder die „Proto-Industrialisierung“ ein. Forscher in Europa hatten festgestellt, dass es Regionen gab, in denen die Mehrheit der Bewohner nicht von der Landwirtschaft lebten, sondern von der Leinenweberei. Diese belieferte aber nicht lokale Märkte, sondern überregionale Märkte. Gleichzeitig gab es gleichsam korrespondierende Regionen, in denen die Landwirtschaft auf die Nachfrage aus den Orten mit Leinengewerbe reagierte. Ansatzweise läßt sich dies auch für Schaumburg nachweisen, so waren in der Grafschaft Schaumburg die Orte mit einem hohen Flachsanbau nicht solche mit einem hohen Anteil an Leinenweber.
Viele kennen die Geschichte der Weber, der verzweifelte Aufstand von Webern, die nicht mehr genug zum Leben hatten. Aber dieses Beispiel führt ein wenig in die Irre. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert boten die Leinenweberei und auch die Spinnerei den dringend benötigten Erwerb der unterbäuerlichen Schichten, die sonst keine Einkünfte hatten. Nicht zufällig förderte Graf Wilhelm das Spinnen und Weben auf dem Lande und nicht zufällig wurde die Leinenweberei auf dem Lande als zünftiges Handwerk betrachtet, während sonst nur in den Städten zünftiges Handwerk betrieben werden durfte.
Die Seeprovinz war „die“ Region in Schaumburg, in der diese spezialisierte, für überregionale Märkte agierende Tätigkeit ausgeübt wurde.
DIE MILITÄRISCHE LANDSCHAFT
Sie alle kennen den Wilhelmstein, gerade jetzt ist er wieder in aller Munde - ein interessanter Touristenmagnet. Aber er hat eine andere, eine ganz andere Geschichte. Der Wilhelmstein war ernst gemeint, bitter ernst. Die meisten kennen vermutlich die Geschichte dieser Insel. Graf Wilhelm hat sie erbauen lassen - und nicht aus Jux und Dollerei. Er hatte Angst um „seine“ Grafschaft, denn schon relativ kurz nach seinem Regierungsantritt hatte er erfahren müssen, dass sie gefährdet war. Der Lehnsherr Hessen-Kassel lag auf der Lauer und wartete nur auf eine günstige Gelegenheit. Wie reagierte Graf Wilhelm darauf? Nun, er suchte eine Lösung, die einerseits durchaus zeittypisch war, die aber andererseits etwas sehr Eigenes darstellte. Beginnen wir mit letzterem.
Wilhelm war sich darüber im Klaren, dass sich ein Kleinstaat wie Schaumburg-Lippe nicht allein gegen einen mächtigen Nachbarn wie Hessen-Kassel wehren konnte. Andererseits gab es andere Nachbarn, die es nicht einfach zulassen würden, dass Schaumburg-Lippe einfach von Hessen-Kassel okkupiert würde. Also musste er er einerseits für die anderen Nachbarn, Preußen und Hannover, eine gewisse Bedeutung haben und er musste andererseits erreichen, dass das kleine Land nicht einfach überrannt werden würde.
Für den ersten Punkt entschied er sich, eine eigene kleine Truppe aufzubauen, die gleichwohl vergleichsweise schlagkräftig war. Diese Schaumburg-lippischen Soldaten waren im Lande keineswegs beliebt, obwohl Wilhelm der Ansicht war, dass jeder Untertan sich für sein Land einsetzen sollte. Aber viele „Wehrpflichtige“ zogen es dennoch vor, lieber das Land zu verlassen, als in der Truppe zu dienen. Trotz der hohen Kosten setzte Wilhelm auf eine militärische Lösung. Eine wichtige Ergänzung bildete dann im Siebenjährigen Krieg der Bau des Wilhelmsteins - besonders unbeliebt bei den Steinhudern, aber auch sonst ein teures, sehr teures Abenteuer. Der Wilhelmstein war nach damaligen Maßstäben nicht zu erobern, eine Insel im kleinen See, die weit genug besonders vom Schaumburg-Lippischen Ufer entfernt lag. Damit nicht genug: Hier sollte eine neue Generation von Offizieren herangezogen werden, der auf der Insel betriebene Unterricht für junge Kadetten, Scharnhorst war einer von ihnen, war wegweisend. Die erste Kriegsschule in Deutschland!
Doch damit nicht genug, denn die Region des Steinhuder Meeres und seines Südufers barg noch eine ganz andere Möglichkeit. Zwar ging hier eine wichtige Poststraße durch - dazu gleich noch mehr - aber aus bückeburger Sicht war die Region recht abgelegen, das Hagenburger Moor machte sie noch schwieriger zu passieren. Nun war das 18. Jahrhundert auch eine Zeit, in der man sich das erste Mal daran machte, vorhandene Landschaftsräume zu verändern und neue zu gestalten. Bekannt ist die Kolonisierung des Oderbruchs oder die Landschaftsgärten. Wilhelm versuchte nun auch, eine neue „Landschaft“ zu kreieren, indem er etwas tat, was einerseits logisch und dennoch völlig neu war. Der Wilhelmstein brauchte eine Basis am Seeufer. Diese musste einen Hafen haben und befestigt sein. Theoretisch hätte Steinhude zu einer Seefestung ausgebaut werden können. Aber nicht dort sollten die Anlagen entstehen, sondern - im Hagenburger Moor! Also in einem eher undurchdringlichen Gebiet. Dazu wurde nicht nur südlich vom Wilhelmstein eine befestigte Hafenanlage geplant, sondern darum gleich eine - befestigte Landschaft! Hier sollten Bauern-Soldaten neue Höfe anlegen, Kartoffeln pflanzen, Obst ernten und gleichzeitig in militärischen Anlagen wie Schanzen die Verteidigung des Gebietes übernehmen.
Dem Ganzen haftete etwas an, was auch für andere Projekte dieser Zeit galt: Etwas unüberlegt und mit den damaligen technischen Möglichkeiten kaum zu realisieren. So versank das Haus des Ingenieurs Praetorius am Westende des Feldes, am Organistengraben, nach wenigen Jahren im Moor. Zwar beendete der frühe Tod des Grafen dies Projekt - sein Nachfolger sammelte gleichsam die Reste schnell ein - , aber auch sonst wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass diese befestigte Landschaft noch lange überlebt hätte.
Damit aber nicht genug. Hier am Südufer des Meeres gab es viele freie, landwirtschaftlich nicht intensiv genutzte Flächen und diese wurden auch sonst für militärische Zwecke genutzt. Zwischen Steinhude und Großenheidorn zeigen zeitgenössische Karten Artilleriestellungen. Dort wurde die Lieblingswaffe des Grafen getestet. Manöver wurden außerdem in diesem Gebiet geplant und wohl auch durchgeführt. Kleines Details am Rande: Der Wiedenbrügger Berg wurde offenbar in seiner taktischen Bedeutung nicht wirklich erkannt, auch wenn er in Manöverplanungen einbezogen wurde. Wer den beherrschte, hatte zumindest das Wilhelmsteiner Feld unter Kontrolle. Aber das ist nur eine Nebenbemerkung.
Hier wurde als um 1770 eine Zukunft erdacht in Form einer Ideallandschaft, eine Zukunft, die so aber nie wirklich realisiert wurde.
An dieser Stelle wollte ich eigentlich dies Kapitel beenden, aber dann fiel mir noch etwas anderes ein, was ich aber nur kurz streifen möchte. Östlich von Großenheidorn liegt der Fliegerhorst, erbaut von den Nazis, während des Spanischen Bürgerkriegs von Bedeutung und auch während des Zweiten Weltkriegs. Das Steinhuder Meer war eine wichtige Einflugschneise für alliierte Bomber auf dem Flug nach Hannover und Berlin. Hier fand zumindest teilweise die letzte große Luftschlacht des zweiten Weltkriegs statt. Der Fliegerhorst besteht heute noch. Die militärische Landschaft ist nicht völlig verschwunden …
DIE VERKEHRSLANDSCHAFT
Als ich in den späten 1970er Jahren und dann noch mal 15 Jahre später intensiv Akten des frühen 19. Jahrhunderts in Bückeburg bearbeitet habe, fand ich in den Schreiben der Regierungsmitglieder Hinweise auf eine sehr geringe Kenntnis der Verhältnisse in der Seeprovinz. Georg Wilhelm, der Hagenburg dagegen sehr gut kannte, musste dann korrigieren. Andererseits: Wenn um 1900 die fürstliche Familie von Hagenburg nach Bückeburg reisen wollte, musste sie den Weg über Wunstorf nach Bückeburg nehmen. Mit anderen Worten: Auch wenn Schaumburg-Lippe klein ist, in Nord-Süd-Richtung liegen und lagen schon ein paar Meilen zwischen der Residenzstadt Bückeburg und dem Steinhuder Meer und - was noch wichtiger ist - es gibt und gab keine gute Verkehrsverbindung zwischen diesen beiden Punkten des Fürstentums und des Freistaats. Dabei ist unsere Region verkehrstechnisch gut erschlossen - nur in der „falschen“ Richtung. Hier verlief eine wichtige Poststraße, hier lag mit der Engelkeschen Poststation eine wichtige hannoversche Poststation, aber diese verband das Gebiet von Loccum, Stolzenau mit Wunstorf und Hannover.
Innerhalb Schaumburgs nahm deshalb die „Seeprovinz“ einen Sonderstatus ein. Sie war weder mit Stadthagen noch erst recht mit Bückeburg eng verbunden, dagegen sehr mit Wunstorf. Das zeigte sich Mitte der 1830er Jahre, als in Schaumburg-Lippe über einen Anschluss an den hannoverschen Steuerverein oder den preußischen Zollverein nachgedacht wurde. Aus dem Amt Hagenburg wurde damals eindringlich auf die engen Verbindungen mit Wunstorf und Hannover verwiesen. Das Getreide aus dem Amt wurde nach Nienburg, Stolzenau oder Neustadt a.Rbge. verkauft, die Leinweber und Garnhändler brauchten den hannoverschen Markt.
Eindringlich verwies das Amt auf die engen Beziehungen nach Hannover:
„Die ackerbautreibende Klasse der Einwohner des Amtes Hagenburg kann also des Verkehrs mit dem Königreich Hannover nicht wohl entraten, besonders wenn man erwägt, daß nicht allein ihr Korn, sondern auch alles, was im ländlichen Haushalte gewonnen wird, als Butter, Eier, Schinken etc. dort seinen Marktplatz findet. Für diese letztgedachten Artikel kommt jährlich von Hannover ... eine sehr bedeutende Summe ins Amt Hagenburg, bedeutender als dies vielleicht auf den ersten Blick erscheinen möchte. Woher sollten die minderbegüterten Eingesessenen, welche nur etwa so viel Korn gewinnen, als zu ihrem eigenen Verbrauch nötig ist, das nötige Geld zu Abtrag der herrschaftlichen Gefälle nehmen, wenn nicht der Verkauf der obengedachten Haushaltsartikel ihnen solches verschaffte. Jeder schränkt den Verbrauch an dergleichen in seinem Hauswesen so viel nur irgend möglich ein, und die wenigen Groschen, welche er wöchentlich einigemale von den Aufkäufern für diese Erzeugnisse erhält, sammeln sich bald zu Talern und sind ihm eine Hilfsquelle von der allergrößten Wichtigkeit, deren etwaiges Versiegen den peinlichsten Notstande herbeiführen würde.“
Kein Zweifel, die Seeprovinz war nach Hannover und Wunstorf ausgerichtet! Insofern war es folgerichtig, wenn Ende des 19. Jahrhunderts eine Bahnverbindung von Wunstorf nach Rehburg und sogar bis Uchte geplant und gebaut wurde. Die Geschichte der Meer-Bahn ist vermutlich hier gut bekannt, deshalb sei ein wenig auf die Rahmenbedingungen eingegangen. Für die Zeitgenossen der ersten Jahrhunderthälfte war klar gewesen, dass Bahnbau und vor allem der Anschluß an die Bahn von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der eigenen Region, des eigenen Ortes war. Allerdings waren um die Zeit der Reichsgründung die großen Städte schon alle an ein überregionales Eisenbahnnetz angeschlossen. Mit dem Wachstum der Städte und der neuen entstandenen Industriegebiete wie besonders dem gar nicht so weit entfernt liegenden Ruhrgebiet drohte etwas, was vielen Konservativen Kopfschmerzen bereitete: die Entleerung ländlicher Räume. Dabei wurden hier doch auch mehr Arbeitskräfte gebraucht. Die Landwirtschaft profitierte nicht unerheblich von dem Nachfragesog der neuen Zentren und dieser ließ sich nur mit mehr Arbeitskräften bewältigen. Zudem brauchten die landwirtschaftlichen Betriebe, aber auch zugeordnete Unternehmen wie Molkereien einen billigen Zugang zu den entfernter liegenden Märkten.
Um dem zu begegnen, wurde beschlossen, den Bahnbau auch in die Regionen zu bringen, in denen sich die bisherigen teuren Maßnahmen nicht rentierten, hier sollten keine teuer projektierten und zu unterhaltenden Normalbahnen entstehen, sondern Nebenbahnen, Kleinbahnen mit geringerer Spurweite, die ohne große und teure Baumaßnahmen teilweise direkt neben den Straßen errichtet werden konnten. 1892 wurde so das preußische Kleinbahngesetz veröffentlicht. Am Anfang der Planungen für die Meer-Bahn (und anderer Kleinbahnen) stand also eine politisch-gesellschaftliche Entscheidung!
Für die Region am Südufer des Steinhuder Meeres, die wie wir schon gesehen haben, an einer Verkehrsachse lagen, boten sich damit neue und erfreuliche Möglichkeiten, etwa für die Landwirtschaft und die verarbeitenden Betriebe wie die Molkerei im Rehburger Gebiet. Allerdings sollte die von hannoverschen Kommunen gewünschte Bahnlinie zwischen Wunstorf und Rehburg, ja Stolzenau und Uchte gelegene Strecke über Schaumburg-lippisches Gebiet führen. Und da lag zeitweise das Problem. Bückeburg hatte kein sonderliches Interesse an dem Ausbau dieser Strecke. Immerhin gelang 1898 die Fertigstellung, wobei auf Schaumburg-lippischem Gebiet die Bahn eine eigene Trasse hatte, in Klein-Heidorn dagegen nicht - das sollte sich später rächen.
Die Idee stammte nicht aus Bückeburg - dort war die verkehrliche Erschließung dieser Region nicht interessant. Sie kam aus Hannover, sie folgte den Verkehrs- und Handelspfaden der Zeit vor der Eisenbahn. Die Meer-Bahn hatte aber noch eine andere Wirkung - sie förderte nicht nur den Tourismus - darauf ist gleich zurück zu kommen - sie schuf zugleich eine kleine Region. Durch die Bahn wurden vor dem Autoverkehr die Beziehungen zwischen den Orten an der Strecke intensiviert. Zugleich arbeiteten dort viele Arbeitnehmer aus der Region, Lokführer, Heizer, Schaffner, Streckenarbeiter, Schlosser, Büromitarbeiter der Bahn stammten aus den umliegenden Orten. Für die einfachen Jungs vom Land bot die Meer-Bahn die Chance zu einer guten handwerklichen Ausbildung und einem begrenzten sozialen Aufstieg. Die Bahn war ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Arbeitgeber, der vorwiegend junge Männer aus der ganzen Region zusammenbrachte. Das ist heute schon wieder Geschichte. Sie ermöglichte nun auch den Besuch weiterführenden Schulen, etwa des Hölty-Gymnasiums in Wunstorf.
Allerdings krankte die Bahn wie viele der im Kaiserreich gebauten Bahnen dieser Art an dem grundlegenden Problem: Die Gesellschafter waren nicht kapitalkräftig genug, die Trasse teilweise entlang der Landstraßen war ungünstig, Geld für Modernisierungen war nicht vorhanden. Allerdings hatte man auch Glück, denn - darauf komme ich gleich noch - die Bahn hatte einen ganz anderen Effekt als den geplanten, sie brachte Touristen ans Meer, besonders nach Steinhude, aber auch in das benachbarte Bad Rehburg! Laut Landeszeitung begann übrigens das schönste Stück der Strecke direkt hinter Hagenburg:
„Nachdem das in saftigstem Grün prangende Hagenburger Holz passiert ist, sieht man zur Rechten stets das Meer, zur Linken über wohlbestallte Fluren den schön bewaldeten Atje- und Düdinghäuser Berg und danach deren Bergkirchener Höhenrücken mit dem malerischen Bergdorf Bergkirchen.“
Doch das reichte auf die Dauer nicht, die Konkurrenz der Straße wurde in den 1950er Jahren immer größer. Erst wurde der Dampflokbetrieb eingestellt, dann auch der mit Triebwagen. Zwei Kleinlokomotiven tuckerten dann noch eine zeitlang über die Schienen und transportierten Güterwagen - dann war Schluß. Seit den 1930er Jahren hatte die Meer-Bahn aber auch schon Busse eingesetzt und diese hatten nach und nach die eigentlich Bahn abgelöst.
DIE TOURISTISCHE LANDSCHAFT
„Aus diesen allgemeinen Bemerkungen über das Steinhuder Meer geht nun zwar hervor, daß es nicht zu den sogenannten „romantischen“ oder „pitoresken“ Seen gerechnet werden kann. Einem Dichter oder Maler scheint es nur eine geringe Ausbeute zu verheißen.“
So beschrieb in den der bekannte Geograph Johann Georg Kohl das Steinhuder Meer. Und das klingt nicht besonders verheißungsvoll, aber tatsächlich entwickelten sich die Dinge ein wenig anders.
Die Orte am Südufer des Steinhuder Meeres verbanden zwei Gegensätze: einerseits relativ abgelegen und ein wenig verwunschen (wovon heute nur noch sehr wenig übrig geblieben ist), andererseits relativ gut erreichbar. Mit dem Bau des Wilhelmsteins hatten sie zudem eine besondere Attraktion zu bieten. Und mit der Meer-Bahn den Anschluß besonders an das benachbarte Hannover.
Gleichsam den Anstoß für einen Steinhuder Meer-Tourismus
1 gab der Wilhelmstein, wobei nicht nur die Insel frühe Besucher faszinierte, sondern der seltsame, aber überaus interessante Graf Wilhelm, der Kanonengraf, der Held von Minden und Portugal, dieser Eigenbrötler, der sich mit Philosophen umgab, in der Welt herum gekommen war, aber seinem Kleinstaat eng verbunden blieb. Wir sind dank Klaus Fesche, der das Fremdenbuch sorgfältig ausgewertet hat, über die ersten Besucher gut unterrichtet. Zu den ersten gehörte der uneheliche Sohn Georgs II. und spätere Reichsgraf v. Wallmoden-Gimborn, der sich nach 1787 dem Tod der Fürstin Juliane um die kleine Grafschaft noch verdient machen sollte (als Vormund des Erbgrafen Georg Wilhelm). Es waren in den ersten Jahren, noch zu Lebzeiten des Grafen vor allem Adelige und Militärs, die den Wilhelmstein besuchten.
Mit dem Tod Wilhelms 1777 und noch mehr nachdem die Festung tatsächlich 1787 einer hessischen Belagerung standgehalten hatte, wurde die Insel regelrecht berühmt - wenn wir es nicht genauer wüßten, müsste die Idee zu Asterix und Obelix … aber nein, lassen wir das.
Der Tourismus zum Meer nahm im 19. Jahrhundert weiter zu, zwar langsam, aber doch stetig, mit wechselnden Schwerpunkten. Die große Zeit begann aber mit dem Bau der Steinhuder Meer-Bahn. Der Zeitpunkt der Eröffnung war günstig gewählt, denn im benachbarten Hannover hatte in den guten Jahren des Kaiserreichs sich ein neues Bürgertum entwickelt, das Natur und Freizeit haben wollte. Mit dem Steinhuder Meer stand ein attraktives Naherholungsgebiet direkt vor der Haustür zur Verfügung. Dank der Staatsbahn und dann der Meer-Bahn war dies schnell zu erreichen. Auch wenn schon früh viele mit dem Auto kamen, andere mit dem Fahrrad, so war doch die Meer-Bahn lange Zeit der wichtigste Verkehrsträger für die Touristen.
Und dann noch die verwandelte Region …
Ein Fazit
Als gebürtiger Wiedenbrügger und damit Schaumburg-Lipper war diese Reise zumindest für mich eine wichtige Entdeckungsreise, auf der hoffentlich einige von ihnen mit gekommen sind. Die einzelne Aspekte waren lange bekannt, aber in den hier gezeigten Perspektiven wird noch einmal deutlich, wie sehr die „Seeprovinz“ in Richtung Wunstorf und Hannover ausgerichtet war. Für Schaumburg-Lipper war sie eine entfernt liegende Provinz, geeignet für eine hübsche Sommerresidenz und dann für militärische und landschaftliche Experimente. Aber das Leben der Menschen war anders ausgerichtet. Auch wenn man sich als Schaumburg-Lipper fühlte und identifizierte, so war doch das wirtschaftliche und soziale Leben nach Westen und nicht nach Süden ausgerichtet. Die Steinhuder Meer-Bahn war kein Zufall, sondern sie verweist auf die relevanten räumlichen Beziehungen dieser Region. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die Gebiets- und Verwaltungsreform, die Teile der Seeprovinz Wunstorf zugewiesen hat, war für eine Schaumburg-lippische Seele vielleicht schmerzhaft, aber sie spiegelte nur das wider, was längst Realität war.
Literatur
Fesche, Klaus: Auf zum Steinhuder Meer!: Geschichte des Tourismus am größten Binnensee Niedersachsens, Bielefeld 1998 (Kulturlandschaft Schaumburg 2).
Wiegmann, Wilhelm: Heimatkunde des Fürstentums Schaumburg-Lippe: für Schule und Haus, Stadthagen 1912. Online: <http://gei-digital.gei.de/viewer/resolver?urn=urn%3Anbn%3Ade%3A0220-gd-9077039>. Ochwadt, Kurt (Hg.): Das Steinhuder Meer. E. Sammlung von Nachrichten u. Beschreibungen bis 1900, Hannover 1967.