Sonntag, 13. Oktober 2024

Kleine Schaumburger Geschichte

Vor einiger Zeit habe ich angefangen, eine kleine Einführung zur Schaumburger Geschichte zu schreiben, die ich hier verlinke: Kleine Geschichte Schaumburgs.

Es ist eine sehr persönliche, knappe Geschichte, die aber das zusammenfasst, was ich in den letzten Jahrzehnten zur Geschichte dieser Region erarbeitet habe - und was viele andere erforscht haben. Schaumburg gehört, wohl nicht allein aufgrund der Existenz eines eigenen Archivs (Der Standort Bückeburg des Niedersächsischen Landesarchivs) und einer eigenen Schriftenreihe, sowie seit einigen Jahrzehnten der Schaumburger Landschaft zu den gut erforschten Regionen Niedersachsens. Hinweise auf diese reichhaltige Literatur finden sich auch in diesem Blog und der erwähnten und verlinkten kleinen Schrift. 

Über Hinweise und evtl. Korrekturen würde ich mich freuen. 


Dienstag, 24. September 2024

Schaumburger Geschichte im Nationalsozialismus

Infos

Die Wahlergebnisse der Grafschaft Schaumburg vom 5.3.1933 finden sich hier: Schaumburger Zeitung, 6.3.1933

Das im Seminar erwähnte Zitat vom Januar 1933 lautet:

Am 1. Januar 1933 kommentierte Erich Krämer in der Vossischen Zeitung:

„Von der heutigen Politik aus betrachtet, war der Inhalt des Jahres ausgefüllt durch die Serie von fünf großen und zahllosen kleineren Wahlen, (…) war sein historisches Ergebnis der Umbruch der Erfolgskurve des Nationalsozialismus, die bisher steil nach oben gegangen war. Zugleich mit dieser Entwicklung, die voraussichtlich bedeutet, daß die Hitler-Bewegung den ausschließlichen Besitz der Macht, dem sie schon so nahe schien, für immer verfehlt hat (…).“

Literaturhinweise

Wer sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Schaumburg auseinandersetzen möchte, findet mittlerweile eine Fülle von Literatur. Hier sollen nur nach und einige der wichtigsten Titel erfasst werden.

Literatur zur schaumburgischen Geschichte kann einfach über den OPAC des Niedersächsischen Landesarchiv, Standort Bückeburg, ermittelt werden:


Beginnen wir mit der Weimarer Republik. Hierzu liegt eine neuere Dissertation vor, die auch online abgerufen werden kann:
Moritz Gruninger: Freistaat oder Landkreis? Die schaumburg-lippische Ambivalenz im Umgang mit der eigenen Souveränität, Bückeburg 2018. (pdf über den Katalog GWLB.de)
Zur sogenannten Machtergreifung, Verfolgung und Widerstand gibt es zwei ältere, aber immer noch relevante Darstellungen von Gerd Steinwascher:
Gerd Steinwascher: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten auf dem Lande: Kontinuität und Machtwechsel am Beispiel Schaumburg-Lippes, Schaumburg-Lippische Mitteilungen 29–30 (1991), S. 151–194. Die Mitteilungen können von den Mitgliedern des Schaumburg-Lippischen Heimatvereins kostenlos über die Homepage heruntergeladen werden.
Ders.: Machtergreifung, Widerstand und Verfolgung in Schaumburg, Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 62 (1990), S. 25–58. Das Jahrbuch ist hier online verfügbar.
Anfang der 1980er hat die KVHS Schaumburg eine kleine Dokumentation mit Quellen über das Ende der Weimarer Republik und das Jahr 1933 (Schaumburg wird braun) herausgegeben.
Über die Anfänge der Schaumburgischen NSDAP gibt es eine umfangreiche Studie:
Johannes Kessler: Das Aufkommen des Nationalsozialismus in Schaumburg-Lippe 1923-1933, Schaumburger Studien 78, Göttingen 2018.
Mit Schaumburger Nationalsozialisten beschäftigt sich ein umfangreicher Sammelband:
Brüdermann, Stefan/Frank Werner (Hrsg.): Schaumburger Nationalsozialisten, Bielefeld 2010.

Freitag, 24. Mai 2024

Demokratie in Schaumburg-Lippe

Über die Demokratie wird derzeit viel gesprochen. (Wobei mir immer Bedenken kommen, wenn über eine Sache zu viel geredet wird, die eigentlich selbstverständlich sein sollte. Aber das ist eine andere Sache.) Wenn über Schaumburg-Lippe gesprochen oder geschrieben wird, ist oft die Rede von den „Fürstenkindern“, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zwar gab es hier bis 1918 einen regierenden Fürsten (der als letzter Fürst 1936 tödlich verunglückt ist, seitdem gibt es keinen Fürsten mehr hier im Lande), aber selbst vor 1918 gab es in diesem Land demokratische Entwicklungen. So gründete der Graf Wilhelm 1775 ein „Institut zur Verbesserung des Nahrungsstandes“, das durchaus einige Elemente enthielt, die man als Volksbeteiligung deuten könnte, worauf er selbst wohl nicht gekommen wäre). 

1815 erhielt Schaumburg-Lippe eine „Verfassung“, die allerdings keine Grundrechte enthielt, sondern nur die Einrichtung eines Landtags (in dem nun auch Bauern saßen) und dessen Rechte bei den Landesfinanzen. 1848 dann ging es schon etwas weiter, Volksversammlungen wurden auch hier abgehalten, der Landtag wurde reformiert, eine Verfassung wurde gefordert. Dass daraus nichts wurde, lag nicht an den Schaumburg-Lippern, denn über den Erfolg der Revolution wurde andernorts entschieden, nicht hier. 

1918 schließlich kam es hier auch zur Abdankung des Fürsten und dann zur Bildung eines Freistaates. Die Revolution war eher zurückhaltend, der Übergang von der alten zur neuen Ordnung vollzog sich ruhig und ohne Gewalt. Doch dann entwickelte sich in diesem Kleinstaat, an dessen Sinn man zunehmend zweifelte (aber den die Bürger dennoch erhalten wissen wollten) eine durchaus wehrhafte Demokratie, getragen vor allem von den Mitgliedern der SPD und der Deutschen Demokratischen Partei, die sich später Deutsche Staatspartei nannte. Diese beiden waren es auch, die 1931, nach der letzten freien Landtagswahl, ein Bündnis schlossen. Die Sozialdemokraten hätten auch gern mit dem kommunistischen Landtagsabgeordneten eine Koalition gebildet, aber der sah in ihnen nur „Sozialfaschischten“. Nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler organisierte dieser Landtagsabgeordnete einen Protest gegen, man beachte die Reihenfolge, die „Lorenz-Bredthauer-Regierung“ (das war die gewählte demokratische Regierung des Landes Schaumburg-Lippe!) und erst dann gegen die Hitler-Papen-Regierung. Die Republik von Weimar wurde von rechts und von links angegriffen, was oft vergessen wird. Am Ende zerstörten die Nazis nicht nur die Demokratie, sondern Deutschland. 

Dank der Landtagswahl von 1931 und einer starken SPD blieb es bis 1933 bei einer handlungsfähigen Regierung in Schaumburg-Lippe, in der Nationalsozialisten nicht beteiligt waren. Das war damals eine Besonderheit, die nicht vergessen werden sollte. Erst nach dem 5.3.1933 wurde die hiesigen Regierung durch einen Reichskommissar abgesetzt.

Der schaumburg-lippische Landtag, heute Gerichtsgebäude, war in den letzten Jahren der Republik ein Ort, an dem hart um die Demokratie gekämpft wurde. 

Literatur: 

Höing, Hubert, Hrsg., Vom Ständestaat zur freiheitlich-demokratischen Republik: Etappen in Schaumburg, Schaumburger Studien 55.  Melle 1995. 

Siehe auch meine Schneiderstube: https://youtu.be/zLzKaMSc2Tw 

Montag, 8. Januar 2024

 RIP Kohlenkirche

Sie steht gleich für zweierlei: für den Höhepunkt des Schaumburger Bergbaus und für den schlampigen Umgang Schaumburgs und auch Niedersachsens mit dem industriellen Erbe. Ich meine die sogenannte Kohlenkirche in Stadthagen, besonders prägnantes Gebäude des Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Georgschachtes, eine damals hochmoderne Schachtanlage. Das Besondere der Kohlenkirche war die Kombination von repräsentativer Front mit den Büros der Verwaltung sowie der kirchenartigen Waschkaue im hinteren Teil. Wer vor 30 Jahren aus dem Ruhrgebiet kommend diese Anlage (zu der damals noch weitere Gebäude gehörten) besucht hat, konnte sich nur wundern. Auf der einen Seite die prachtvolle als Museum dienende Anlage auf Zollern II/IV in Dortmund, auf der anderen die nicht weniger eindrucksvollen, aber schon damals dem Verfall preisgegebenen Gebäude des Georgschachtes. Gewiß, der Vergleich hinkt, denn auch im Ruhrgebiet wurden eben die meisten alten Anlagen abgebaut und es haben nur wenige überlebt. Andererseits steht der Georgschacht (wie auch die Ilseder Hütte) für eine erfolgreiche regionale Industrialisierung im heutigen Niedersachsen. 

Schaumburger Geschichte ohne den Bergbau hätte anders ausgesehen, aber offenkundig hatten die politisch Verantwortlichen in diesem Kreis nie ein Gespür für historische Verantwortung. Man sah zu, ließ zu und rührte sich nicht. Alle Versuche der 1980er Jahre, daran etwas zu ändern (insbesondere von Georg Römhild) prallten an manchmal demonstrativ zur Schau gestellten Ignoranz ab. 

Dass jetzt die Kohlenkirche abgerissen wird, ist nur folgerichtig. Zwar hatte die Schaumburger Landschaft noch versucht, neue Konzepte zu entwickeln, aber nach der Vorgeschichte war nicht zu erwarten, dass daraus etwas werden würde. 


Dienstag, 21. November 2023

1848 in Schaumburg-Lippe

Einige Anmerkungen

Die 1848er Revolution in Schaumburg-Lippe hat keinen guten Ruf.(1) Sie sei “vertagt” worden, heißt es in einer neueren Darstellung.(2) Aber stimmt das eigentlich? Gewiß, wichtige Forderungen des März 1848, wie die nach einer Verfassung und eine Zivilliste wurden nicht erfüllt, im Oktober 1849 traten die liberalen Regierungsmitglieder zurück, im Januar 1850 wurde der noch tagende ständische Ausschuss von der Regierung stillgelegt. Aber betrachten wir die Dinge von einer anderen Seite: 

Zum einen: Die Entscheidungen über das Gelingen der Revolution wurden woanders getroffen, nicht in Hannover, Kassel, München oder Frankfurt/M, sondern in Berlin und in Wien. Als sich dort die Reaktion im Laufe des Jahres 1849 durchsetzte, gab es andernorts keine Chance auf demokratische Entwicklungen. Erst recht in Bückeburg.

Dann muss man die Rahmenbedingungen eines Kleinstaates betrachten, der kein großes, differenziertes und selbstbewußtes Bürgertum hatte, keine eigene Presse (1848/49 musste man das in Rinteln erscheinende Wochenblatt lesen, um über schaumburg-lippische Vorgänge informiert zu sein). Die Rahmenbedingungen konnte kaum ungünstiger sein. 

Berücksichtigt man diese beiden Aspekte, so stellt man erstaunt fest, dass das, was hier diskutiert und teilweise umgesetzt wurde, durchaus beachtlich war.

Am 12. März 1848 wurde gefordert:

  • Allgemein: Preßfreiheit, Versammlungsrecht, Reform Gerichtswesen, volkstümliches Parlament beim Deutschen Bund, allgemeines Deutsches Gesetzbuch

  • Für Schaumburg-Lippe

    • Öffentlichkeit der ständischen Versammlungen, Publikation Landtagsprotokolle

    • Dreijährige Wahlen, Erweiterung aktives und passives Wahlrecht

    • Nur ein Vertreter der Ritterschaft, 

    • Erweiterte Rechte der Ständeversammlung

    • Befreiung des Bauernstandes von allen Beschränkungen, Aufhebung des Heimfallsrechts, Dienstablösungsgesetz

    • Landeskasse

    • Vereidigung der Beamten auf die Verfassung (!)

    • Gleiche Steuerpflicht für alle

    • eine Gemeindeordnung (3)

Einige der Forderungen wurden vom Landesherrn schon wenige Tage später erfüllt:

Das Heimfallsrecht wurde aufgehoben, gleichfalls die Zensur und die Versammlungsfreiheit wurde ermöglicht. Zudem erschien eine Verordnung über die “Weiterbildung des ständischen Instituts”. Es sah erweiterte Rechte der Landstände vor, eine direkte Wahl der Abgeordneten (statt bisher eine indirekte), die dann auch nicht lebenslänglich, sondern für drei Jahre gewählt werden sollten. Jeder Bürger und Hofbesitzer über 25 Jahre durfte nun wählen. Die Ritterschaft war nur noch mit einem statt fünf Vertretern im Landtag, die beiden Städte mit insgesamt vier, die Flecken mit zwei, die Ämter hatten dagegen 13 Vertreter, womit das flache Land das Übergewicht hatte. Gewählt werden konnte jeder Wahlberechtigte des ganzen Landes, so daß auch in den Ämtern bürgerliche Kandidaten gewählt werden konnten.

Im April wurde ein neuer Landtag nach der neuen Verordnung gewählt, die Wahlbeteiligung erreichte in den beiden kleinen Ämtern Hagenburg und Arensburg immerhin 70 %. Im Juli trat dieser Landtag zusammen und beriet eine Reihe von Gesetzen, allerdings unter Verzicht auf eine neue Verfassung. Hier begann das eigentliche Dilemma, denn die von diesem Landtag, der im November und Dezember 1848 noch einmal zusammentrat, realisierten Gesetze blieben weit hinter den Erwartungen vom März zurück. Nicht nur die Verfassung blieb eine unerfüllte Hoffnung, sondern auch die Zivilliste und selbst das dringend notwendige Ablösungsgesetz für die Dienste wurde nicht realisiert.

Realisiert wurden u.a. folgende Gesetze:

1.8.1848 Heranziehung des bisher befreiten Grundbesitzes zur Kontribution,

29.8.1848 unentgeltliche Aufhebung der Jagddienste, 

5.12.1848 Unabhängigkeit der politischen Rechte vom religiösen Bekenntnis (erst jetzt waren die jüdischen Mitbürger den christlichen gleichgestellt),

6.12.1848 ein neues Wahlgesetz,

8.12.1848 Aufhebung des Äußerungsverfahrens, 

2.1.1849 Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder, 

23.1.1849 Gesetz über die Schulzucht, 

31.1.1849 Aufhebung des Tabaksgeldes.

Derweil organisierte sich im Land eine neue Öffentlichkeit in Form von Volksversammlungen, aus denen u.a. ein Volksverein hervorging. Dessen Programm bestand aus drei Punkten:

1. „Aufrichtige Hingebung an das Werk der Einigung und Kräftigung Deutschlands, möglichste Unterstützung der Wirksamkeit der National-Versammlung, willige Anerkennung ihrer Beschlüsse, Anstreben und Festhalten der demokratisch-konstitutionellen Monarchie für den deutschen Gesamtstaat sowohl wie für die Einzelstaaten (…)“

2. „Für die besonderen Verhältnisse des hiesigen Landes kommt noch hinzu die für eine gedeihliche Staatswirthschaft unerläßliche genaue Sonderung des Staatsvermögens von dem Vermögen des Fürstlichen Hauses (…)“

3. „Der Zweck des Volksvereins ist, durch Besprechung und Belehrung über die all-gemeinen deutschen und die besonderen Angelegenheiten unseres Fürstentums, nötigenfalls durch Eingaben (…) dahin zu wirken, daß jeder Zeit dem Gesetze von allen Seiten die höchste Achtung werde.“

1849 erlahmte die Reformtätigkeit in Schaumburg-Lippe. Zwar fand Anfang März die Neuwahl eines neuen Landtags statt, aber dieser trat erst im September zusammen. Schon einen Monat später traten die liberalen Regierungsmitglieder Bömers, König und Capaun-Karolowa zurück. Zwar gab es im Winter noch einmal den Versuch, eine Verfassung zu initiieren, aber dieser blieb in der Gegenrevolution regelrecht stecken. Anfang 1850 musste der landständische Ausschuss seine Arbeit beenden. 

Hier gibt es allerdings auch zu bedenken, dass in den Metropolen Berlin und Wien schon längst die Revolution gescheitert war. Da war Schaumburg-Lippe eher ein “Nachzügler”. Gravierender aber war, dass bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes nach 1850 hier kein Landtag mehr zusammentrat. 1850 begann in Schaumburg-Lippe eine eisige Zeit der Reaktion. Als 1868 ein neuer Landtag gewählt wurde, hatte dieser nichts mehr mit dem Landtag von 1848 zu tun. Er war rein ständisch organisiert. 

Das Fürstenhaus, das 1848 kurz vor der Einführung der Zivilliste gestanden hatte (und damit vor einem Offenbarungseid) zeigte jetzt deutlich, wer in Schaumburg-Lippe politisch das Sagen hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Literatur

Zitierte Literatur

(1) Bethmann, Anke: Revolutionsrezeption und -gestaltung in Schaumburg : politische Öffentlichkeit als Indikator des Demokratisierungsprozesses ; 1789 und 1848: Das Bürgertum betritt die politische Bühne, in: Höing, Hubert (Hg.): Vom Ständestaat zur freiheitlich-demokratischen Republik, 1995, S. 79–105.

(2) Rügge, Nicolas: 1848: die vertagte Revolution in Schaumburg, in: Brüdermann, Stefan (Hg.): Entscheidungsjahre in Schaumburg, Göttingen 2020, S. 37–61.


(3) Lathwesen, Heinrich: Der Schaumburg-Lippische Landtag und seine Abgeordneten, Bückeburg 1974.


Weitere Titel:


Meyer, Stefan: Georg Wilhelm Fürst zu Schaumburg-Lippe (1784 - 1860): absolutistischer Monarch und Großunternehmer an der Schwelle zum Industriezeitalter, Bd. 65, Bielefeld 2007 (Schaumburger Studien).

Poschmann, Brigitte: Politische Strömungen in Schaumburg-Lippe von der 48er Revolution bis zum Ende der Monarchie, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 52, 1981, S. 107–138.

Schneider, Karl Heinz: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse und die Agrarreformen in Schaumburg-Lippe im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 44, Rinteln 1983 (Schaumburger Studien).




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Dienstag, 14. November 2023

Einige Daten zur Geschichte Schaumburgs, insbesondere zur Industrialisierung

 KH Schneider:

Geschichte Schaumburgs und der beiden Nachfolgeterritorien Schaumburg-Lippe und hessische Grafschaft Schaumburg.

Besiedlung und Entstehung der Grafschaft Schaumburg

vor 1100: Billunger üben auch im Gebiet der späteren Grafschaft Schaumburg die Herzogsrechte aus. Aussterben der Billunger 1106 macht den Weg frei für kleinere Herren/Geschlechter.

um 1100 mehrere Obereigentümer: Bischof von Minden, Askanier Theoderich von Werben (Sohn Albrechts des Bären), Edelherr Mirabilis (vom Broke, 1167 +, Schenkung der Besitzungen an die Mindener Kirche), Edelherrn von Arnheim (u.a. Lehnsträger des Theoderich von Werben), sowie seit ca. 1100: erste Erwähnung des Grafen Adolf zu "Scowenburg" zunächst auf das Wesertal beschränkt, im Verlauf des 12. Jahrhunderts Ausgreifen nach Norden, Übernahme der Besitzungen des Edelherrn von Mirabilis (Lehnsherr Mindener Kirche) und der Familie von Arnheim.

Anfang des 13. Jahrhunderts greifen die Schaumburger weiter nach Norden aus Gründung von Stadthagen nach 1220 (etwa zur gleichen Zeit auch von Rinteln im Wesertal). Konkurrenten: Herzöge von Sachsen-Lauenburg (1248 Gründung von Sachsenhagen) und der Grafen von Roden. Bis um 1300 Übernahme der Besitzungen beider Konkurrenten in dem Gebiet bis zum Steinhuder Meer und bis Rodenberg (1317).

Grafenamt: Lehen der sächsischen Herzöge, dagegen die meisten Gebiete (Ämter Schaumburg, Bückeburg, Stadthagen und Sachsenhagen Lehen des Bischofs von Minden; nur Ämter Hagenburg, Bokeloh, Rodenberg und Arensburg Eigengüter). Ab 1565 drei Lehnsherren: Mindener Bischöfe (Bückeburg, Stadthagen, Schaumburg, Sachsenhagen), Landgrafen von Hessen-Kassel (Rodenberg, Hagenburg und Arensburg), Herzöge von Braunschweig (Lauenau, Bokeloh). Ziel: Absicherung des Territoriums, um nicht zwischen den mächtigen Nachbarn zerrieben zu werden.

Unter den schaumburger Grafen ragte besonders Graf Ernst (reg. 1601-1622, seit 1619 persönlicher Fürstentitel) hervor. Wirtschaftliche Unternehmungen (Kohlenbergwerke, Salinen) bilden die Basis für zahlreiche kulturelle, wissenschaftliche und architektonische Unternehmungen. Verlegung der Residenz 1606 von Stadthagen nach Bückeburg, Ausbau des Schlosses, Bau der Stadtkirche gleichzeitig weiterhin Förderung von Stadthagen (Mausoleum). Gründung der Universität Stadthagen-Rinteln. Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse (Amts- und Hausordnung, Land- und Polizeiordnung 1615). Einen Tag nach seinem Tod erreichte der Krieg auch die Grafschaft. Hohe Verluste, 1633 Schlacht von Hess. Oldendorf; Stadthagen allein 40 mal von Truppen eingenommen und geplündert.

1640 Tod des Grafen Otto (V.) Versuche seiner Mutter, Gräfin Elisabeth, die Grafschaft zu retten, scheitern; die Lehnsherren formulieren ihre Ansprüche sofort; Braunschweiger ziehen ihre beiden Ämter sogleich ein. Elisabeth setzt ihren Bruder als Mitregenten ein, der 1644 eine hessische Prinzession heiratet. 1647 schließlich Einigungsvertrag: Teilung der Grafschaft in einen lippischen Teil (Graf Philipp, Lehnsherr: Landgraf von Hessen-Kassel) und einen hessischen (Landgraf von Hessen-Kassel zugleich Graf zu Schaumburg).

Daten zur Entwicklung Schaumburg-Lippes

1647-1681: Regierung des Grafen: Philipp gemeinsame Einrichtungen mit Hessen-Kassel: Stände, Universität in Rinteln, Bergwerk Trennung bei Ständen und Universität Wiederaufbau des vom Krieg verwüsteten Landes.

1681-1728: Graf Friedrich Christian: eigenwillige und autoritäre Politik, familiäre Konflikte (Schei­dung von seiner Frau) Auseinandersetzung mit den Ständen, die auch in der Folgezeit keine politische Bedeutung mehr erlangen können.

1728-1748: Albrecht Wolfgang: bekannt durch Hofhaltung; Kontakte mit Voltaire, keine entscheidenden innenpolitischen Aktivitäten.

1748-1777: Graf Wilhelm, Höhepunkt der Stellung Schaumburg-Lippes in Norddeutschland. Ausgangspunkt seiner Politik: die permanente Drohung Hessen-Kassels, das Land zu übernehmen. Antwort: Aufbau einer leistungsfähigen stehenden Truppe (ab 1751), Bau des Wilhelmsteins (eigtl. der Wilhelms-Inseln), des Wilhelmsteiner Feldes. Ab 1756 in Diensten der Hannoveraner-Engländer, 1762/63 in Portugal. Nach 1765 weitreichende, wenngleich typische innenpolitische Maßnahmen (Förderung des Handwerks, der Landwirtschaft [Dienstabstellungen]), zuletzt, 1775, "Institut zur Verbesserung des Nahrungsstandes".

1787: Nach dem Tod seines Nachfolgers Philipp Ernst Besetzung des Landes durch Hessen-Kassel. Wilhelmstein bleibt unbesetzt, aber Eingreifen Hannovers und Preußens zwingt Hessen zum Rückzug. Danach Regierung der Fürstin Juliane für den unmündigen Georg-Wilhelm.

1807-1860: Fürst Georg Wilhelm. Patriarchalischer Herrscher, zögernde Reformansätze im Inneren zwischen 1808 und 1813 werden nach 1818 nicht fortgeführt, 1831 und 1848/49 ebenfalls kein Durchbruch hinsichtlich innenpolitischer Reformen (Verfassung, Ablösungsgesetzgebung, Steuergesetzgebung usw.). Enge Anlehnung an Hannover (1838 Beitritt zum Steuerverein) zahlt sich auch wirtschaftlich aus, vor allem durch Bau der Bahn Hannover-Minden über Stadthagen/Bückeburg. Allgemeine Krisensituation des Vormärz und der 50er Jahre somit in Schaumburg-Lippe nur sehr abgemildert (etwa eine geringe Auswandererquote).

1866: Land kann Selbständigkeit bewahren, Mitgliedschaft im Norddeutschen Bund.

1871-1918: Land bleibt zwar äußerlich souverän, aber ist weitgehend von enger Zusammenarbeit mit Preußen abhängig jetzt notwendige Modernisierungen (Agrarreformen, ua., 1868 schon Verfassung), Land bleibt finanziell vom Fürstenhaus abhängig. Ab 1890 starke Arbeiterbewegung dank Bergbau und Glasindustrie typische Form des ländlichen Arbeiters.

1918: Novemberrevolution: erst verspätet, Weimarer Zeit von der Dominanz der SPD geprägt, Ansätze zum Anschluß an Preußen scheitern. Ökonomisch/politische Krisensituation am Ende der Weimarer Republik im Vergleich zum Reich abgemildert aber dennoch kritisch, Entlassungen beim Bergbau und der Glasindustrie (Aufgabe des letzten schaumburg-lippischen Werkes 1932).

Grafschaft Schaumburg, hessischen Anteils

1647-1821: Grafschaft bleibt selbständiges Territorium mit eigener Verwaltung in Rinteln. Im 17. Jahrhundert Ausbau Rintelns zur Festungsstadt, im 17./18. Jahrhundert Anlage neuer Siedlungen (Hessendorf, Friedrichshagen, Friedrichsburg, Friedrichswald), Förderung der Landwirtschaft. Universität in Rinteln gelingt kein Durchbruch. Insgesamt ist Grafschaft für Hessen wichtig, da Verbindung zu den nördlichen Exklaven (Uchte, Auburg). Im Gegensatz zu Schaumburg-Lippe Fortbestehen der Stände.

1821-1866: Landkreis Grafschaft Schaumburg der Provinz Niederhessen. Selbständigkeit verloren, komplizierte Verwaltungsgliederung, Schaumburg wird Nebenland. Förderung von Handwerk, Landwirtschaft stagnieren, ungünstige Lage behindert gute Verkehrsanbindung, Vorteile der Weser können kaum genutzt werden; allein das Gebiet um Obernkirchen profitiert von der beginnenden Industrialisierung. Bis 1840 Bevölkerungsanstieg, danach Stagnation und Rückgang, hohe Auswandererquoten in einigen Gebieten der Grafschaften. Es kommt aber nicht, bzw. nur sehr begrenzt zu einer Radikalisierung der Bevölkerung 1848/49.

1866-1932: Landkreis Grafschaft Schaumburg Teil der preußischen Provinz Hessen-Nassau (und nicht Hannovers, dorthin erst 1932). Große Entwicklungsunterschiede: prosperierende Gebiete um Rinteln (Bahnanschluß seit 1875) und Obernkirchen (Glas, Kohle, Steinbrüche) neben unterentwickelten ländlichen Gebieten (Rodenberg, Sachsenhagen).


Statistische Daten zu Schaumburg-Lippe und der Grafschaft Schaumburg

Bevölkerungsentwicklung im 19./20. Jahrhundert

Jahr Gf. Schbg Sch.-L.

Jahr

Gf. Schbg


Sch.-L.


1821/23

30841

100

23124

100

1848/49

36460

118

28840

125

1871

37066

120

33133

143

1905

47187

153

44989

194

1925

48139

156

48020

208

1939

50860

165

53195

230

Auswandererziffern (Amerikaauswanderung) in Schaumburg 1840-1870 absolut und je 10.000 Einwohner/Jahr:

Jahrz.

1840-49

1850-59

1860-69

Gf. Schbg.

644

2028

1346

je10.000 Einw.

18,25

55,2

37,6

Sch.-L.

322

728

577

je 10.000 Einw.

11,5

24,1

18,7

Auswandererzahlen nach Rieckenberg, Auswanderer, eigene Berechnung. Einwohnerwerte: SL: 1842, 1852, 1861: nach L3 Bf 7a-h Gf.:nach Kröger, Statistische Darstellung.


Glashütten in Schaumburg im 19. Jahrhundert

Schauenstein

  • 1799 Gründung der Glashütte Storm in Obernkirchen, 1816 Konkurs,

  • 1822 Kauf der Hütte durch F.A. Becker, 1823 wird Hermann Heye Teilhaber, nach Umbau 1827 Name „Schauenstein”,

  • 1840 trennt sich Becker von Heye und gründet die „Neue Hütte” in Obernkirchen

  • 1870 baut Theodor Heye eine zweite Hütte in Nienburg, denen danach noch weitere folgen werden,

  • 1900 umfangreiche Modernisierung: Umstellung von Hafen- auf Wannenofenbetrieb,

  • 1900/01 Streik der Glasmacher in Obernkirchen (schwerpunktmäßig bei Heye),

  • vor 1914 keine Einführung der Owens-Maschine, nachdem 1901 die halbautomatischen Maschinen von Severin eingeführt wurden,

  • 1914 die größte Glashütte in Schaumburg.

Neuhütte

  • 1842 Bau durch F.A. Becker, bald Beteiligung des Hauses Stoevesandt & Bohlens aus Bremen,

  • 1859 Hermann Stoevesandt wird Alleininhaber

  • 1874 Bau der Hermannshütte in Rinteln, Neuhütte wird allerdings weiter modernisiert

  • Einstellung der Produktion in den 30er Jahren, nachdem nur noch Demjohns hergestellt wurden

Wendthöhe

  • 1817 als erste Hütte in Schaumburg-Lippe gegründet,

  • 1852 Bau einer zweiten Hütte

  • 1856 Verkauf der Hütte an Heye, danach weiterer Ausbau, 1926 Stillegung

Schierbach

  • 1840 durch Tiemann, Rump und Riensch gegründet, 1910 Verkauf an Stoevesandt

Lagershausen und Rump & Riensch/Stadthagen,

  • 1872 durch C. Lange gegründet, 1881 durch Carl Lagershausen übernommen, 1908 Fusion mit der Oldenburgischen Glashütte, 1930 Aufgabe der Produktion

  • 1872 auch Gründung der Fabrik Rump&Riensch, 1913 Ende der Produktion,

Hermannshütte/Rinteln

  • 1874 Bau, Ausbau in den nächsten Jahrzehnten zur modernsten Glashütte in Schaumburg, ab 1886 Umstellung auf den Wannenofenbetrieb,

  • 1909 Einführung der automatischen Glasherstellung mittels der Owens-Maschine;

Die Glasmacher und andere Beschäftigte der Hütten:

  • die Beschäftigten der Glashütten setzten sich aus mehreren Gruppen zusammen:
    den eigentlichen Glasmachern, den weiteren am Glasherstellungsprozeß Beteiligten wie den Motzern (Lehrlinge) und den Einträgern, den qualifizierten sonstigen Arbeitern (Schürer), den Tagelöhnern und den Korbmachern.

  • unter diesen Gruppen nahmen die Glasmacher eine Sonderstellung ein: sie wohnten als einzige in direkter Nähe der Fabriken in Werkswohnungen, sie stammten nicht aus Schaumburg, sondern waren von auswärtigen Glashütten zugezogen und sie besaßen einen ausgeprägten Berufsstolz, der sich auch im langen Streik von 1900/01 bewährte, wenngleich der Streik scheiterte,

  • im Gegensatz zu den Glasmachern lebten die übrigen Beschäftigten in den umliegenden Dörfern, die Korbmacher stammten sogar aus weiter entfernteren Dörfern (wie aus dem Wesertal) und arbeiteten während der Woche auf den Hütten (Schlafhäuser).

Der Schaumburger Bergbau im 19. Jahrhundert

  • entscheidend für den Schaumburger Bergbau waren die geologischen Verhältnisse: der von den Bückebergen in die Schaumburger Mulde einfallende bauwürdige Flöz hatte ein „Mächtigkeit” von ca. 50 cm,

  • in den Bückebergen fand seit dem Mittelalter der Stollenabbau statt, seit dem frühen 19. Jahrhundert ging man bei Nienstädt zum Tiefbau über; je nach Lagerstätte handelte es sich um fettreiche oder um Magerkohle; in den Bückebergen litt der Abbau unter hoher Feuchtigkeit (dünnes Deckgebirge), im Tiefbau gab es Probleme bei der Bewetterung (Grubengase),

  • Besitzverhältnisse: gleiche Anteile des schaumburg-lippischen Fürsten und des hessischen Kurfürsten, seit 1831 tritt an die Stelle des letzteren der kurhessische Staat; seit 1866 der preußische Staat,

  • schon im 18. Jahrhundert weiterer Ausbau des Bergbaues (1757 Wilhelm-Wilhelm-Stollen),

  • um 1800 ca. 120 Bergleute; um 1831 dann 450 Mann, 1860 ca. 900 Bergleute; zunächst stammten sie zu etwa gleichen Teilen aus der Grafschaft Schaumburg und Schaumburg-Lippe, ab der Mitte des Jahrhunderts dann stärker aus Schaumburg-Lippe,

  • Fördermengen: im 18. Jahrhundert ca. 3000 to, Anfang der 40er Jahre ca. 50.000 to, 1856 150.000 to,

  • 1816 Aufnahme der Verkokung auf Osterholz, dort im gleichen Jahr auch erster Tiefbau, ab 1835 nach Einbau der ersten Wassersäulenmaschine wurde der Abbau aufgenommen,
    1854 der zweite Kunstschacht und 1873 der dritte Kunstschacht, Ausbau des Beckedorfer Revieres beginnt, ab Ende des Jahrhunderts dann auch verstärkter Ausbau des Stollenabbaues (1907 Liethstolln), ab 1902 Bau des Georgschachtes (für die F-Sohle),

  • mit Georgschacht wird auch die Weiterverarbeitung der Kohle bzw. von Kohleprodukten (in erster Linie Koks, daneben Teer, Ammoniak) erheblich modernisiert bzw. erst eingeführt,

  • Wirtschaftskrisen 1857 und nach 1873 treffen auch den Schaumburger Bergbau

  • bis Anfang des 20. Jahrhunderts bleibt der Schaumburger Bergbau konkurrenzfähig gegenüber dem Ruhrbergbau als größtem Konkurrenten, danach nimmt der Abstand zu, da dort aufgrund der besseren Abbauverhältnisse eine Mechanisierung des Abbaues einsetzen konnte (Schüttelrutschen, Bohrmaschinen)

  • dagegen bleibt der Abbau in Schaumburg Handarbeit, wird erschwert durch die starke Ausdehnung infolge nur eines bauwürdigen Flözes,

  • durch das schnelle Fortschreiten des Abbaues ist auch schon vor 1914 erkennbar, daß der Georgschacht nur eine begrenzte Zeit Zentrum bleiben kann, im neuen Beckedorfer Schacht wird allerdings erst in den 20er Jahren die Förderung aufgenommen,

  • die Schaumburger Bergleute stammen nicht wie die des Ruhrgebietes von auswärts, sondern sind Einheimische, durch die Ausdehnung des Abbaues von den Bückebergen in die Schaumburger Mulde und an den Nordrand der Bückeberge (Beckedorf) werden von ihm auch neue Dörfer erfaßt,

  • als „bodenständige Grundbesitzer” unterschieden sich die Bergleute von den Glasmachern.

Es wird sich neues Leben, frische Thatkraft, größere Energie und vermehrte Steuerkraft einstellen und damit beweisen, welchen Segen eine Bahn bringt, wenn sie einer Gegend zugeführt wird - wo gute arbeitsame Bevölkerung und gesunde industrielle Verhältnisse schon vorhanden sind.“1

Hier liegt eine Reihe von Ortschaften, die Anfänge einer industriellen Entwicklung zeigen, sie ist bisher nicht zu Entfaltung gekommen, weil die Verkehrsverhältnisse noch zu ungenügend sind.“ 2

Das von der geplanten Bahnlinie beeinflusste Verkehrsgebiet umfaßt etwa 25.000 Einwohner und ist land- und forstwirtschaftlich hoch entwickelt. Daneben sind auch alle Vorbedingungen für eine nutzbringende Ausbeutung und Förderung industrieller Betriebe gegeben...” 3 

Anmerkungen:

1 Aus einem Schreiben Heyes an Oberpräsidenten Graf von Eulenburg in Kassel hinsichtlich einer Bahnverbindung Rinteln-Obernkirchen-Stadthagen vom November 1883 (Tag fehlt) (STAM Best. 150 Nr. 2087).

2 Stellungnahme des Kreisausschusses Rinteln zur Extertalbahn vom 4.5.1909 (STAM Best. 150 Nr. 2067).
3 Erläuterungsbericht vom 17.4.1903 (STAB L 4 3692).

Freitag, 20. Oktober 2023

Die Orte der Seeprovinz




Bei dem folgenden Text handelt es sich um meine Vorlage für einen Vortrag, den ich vor zwei Jahren in Steinhude gehalten habe.

Die Orte der „Seeprovinz“

„Steinhude und Hagenburg sind die beiden einzigen Flecken unseres Landes und die beiden wichtigsten Orte im nördlichen Teile desselben. Dieses Gebiet (...) in der Niederung des Steinhuder Meeres wird im Volksmund gewöhnlich die Seeprovinz genannt. Der Boden ist hier sehr verschieden; man findet Lehm-, Ton-, Sand- und Moorboden, aber üppige Wiesen. An Waldungen sind zu nennen der Forstbezirk Berghoff auf dem Rehburger Höhenzuge, die Schier bei Hagenburg, das Hoheholz bei Steinhude und der Föhrenkamp bei Großenheidorn. (…) Die wichtigsten Erwerbsquellen der Bewohner sind Ackerwirtschaft, Viehzucht, Weberei (Kunstweberei), Fischerei und Handel. Von den übrigen Bewohnern unseres Landes unterscheiden sich die Seeprovinzler durch Kleidung und Sprache. Sie tragen keine Nationaltracht, sondern einfache bürgerliche Kleidung (bei den Frauen in Wölpinghausen finden sich noch vereinzelt eigenartig gestrickte Mützen). Statt des landesüblichen Maike heißt es hier Dirn, statt mi und di aber meck und deck. (…) Die Frauen haben vielfach strohgelbes Haar. Sie müssen gewöhnlich tüchtig mitarbeiten. Durch das übliche Kiepentragen bildet sich bei ihnen nicht selten eine schlechte Körperhaltung aus. An männlichen Vornamen sind gebräuchlich: Dietrich, Konrad, August, Heinrich, Wilhelm, an weiblichen Doris (Dora), Sophie, Marie, Minna, Emma.“
So lautet die knappe Beschreibung der Seeprovinz in Wilhelm Wiegmanns „Heimatkunde des Fürstentums Schaumburg-Lippe“ von 1912.
Auf der Suche nach dem Begriff „Seeprovinz“ bin ich hier fündig geworden, danach gibt es ihn noch öfter, aber seltener, als man zunächst annehmen sollte. Was gehört also zur Seeprovinz? Folgt man Wiegmanns Beschreibung von Westen nach Osten, dann waren das Wölpinghausen, Hagenburg, Altenhagen, Steinhude und Großenheidorn. Rein logisch müssten dazu auch Bergkirchen, Wiedenbrügge, Schmalenbruch und Windhorn gehören, aber diese werden nicht erwähnt. Was war aber nun das Besondere dieser „Seeprovinz“, also der Schaumburg-lippischen Orte südlich des Steinhuder Meeres? Und was war das Verbindende - bei allen Unterschieden. Nun, ich bin ja selbst in der Seeprovinz aufgewachsen und mir fällt da sofort etwas ein, aber dazu komme ich später - ein wenig Spannung muss ja sein.

Die Orte der Seeprovinz

STEINHUDE
GROSSENHEIDORN
HAGENBURG UND ALTENHAGEN
WIEDENBRÜGGE, BERGKIRCHEN UND WÖLPINGHAUSEN

Die vier Landschaften

Der Begriff der Landschaft:

„In den historischen Wissenschaften dient „Landschaft“ meist als Ordnungsbegriff, als Kennzeichen eines Raumes, der selbst wiederum durch signifikante Eigenheiten bestimmt ist – oder jeweils aus unterschiedlicher Perspektive zu bestimmen ist: durch Sprache, Institutionen, regional mehr oder minder kohärente Phänomene – Sprachlandschaft, Klosterlandschaft, Kunstlandschaft.“
(Franz J. Felten, u.a. (Hg.), Landschaft(en): Begriffe - Formen - Implikationen (Geschichtliche Landeskunde 68), Stuttgart 2012, S. 2)

DIE PROTOINDUSTRIELLE LANDSCHAFT

Dies war nur ein kurzer Überblick, aber er zeigt, wie unterschiedlich diese Orte waren - und immer noch sind. Da ist Steinhude, der wohl älteste Ort der genannten, ein besonderer Flecken dank seiner Lage am Meer und der damit verbundenen Privilegien. Dann die Bauerndörfer, ebenfalls alle ein wenig verschieden, aber doch mit einer bis im 19. Jahrhundert bestehenden Dominanz der bäuerlichen Bevölkerung, schließlich Hagenburg, Sitz des Amtes und Burgort - der zentrale Ort der „Seeprovinz“ bzw. des Amtes Hagenburg. Wo ist da das Gemeinsame, Verbindende?

Nähern wir uns der Antwort auf diese Frage auf eine vielleicht überraschende Weise. 1951 hatten die Gemeinden des Amtes Hagenburg (und ja, ich weiß, dazu gehören auch noch weitere Orte) einen Einheitswert des Landes von 1747 DM/ha, das war im gesamtschaumburglippischen Kontext der niedrigster Wert, alle anderen Ämter hatten über 2000 DM/ha. Mit anderen Worten: Die Orte des alten Amtes Hagenburg hatten die schlechtesten Böden.

Nun sollte man meinen, dass in der vorindustriellen Gesellschaft die Bodengüte von entscheidender Bedeutung für die Siedlungsdichte war: Gegenden mit schlechten Böden konnten weniger Menschen ernähren als solche mit guten Böden. Wie sah das aber in Schaumburg-Lippe aus? 1836 lebten in Schaumburg-Lippe durchschnittlich 78 Menschen je qkm. Im Amt Bückeburg waren es 75, im Amt Stadthagen 50 - und im Amt Hagenburg 92,5! Also fast doppelt so viele wie im Amt Stadthagen. Oder anders formuliert: Obwohl das Amt Stadthagen fast dreimal so viel Fläche hatte wie das Amt Hagenburg lebten hier nicht einmal 50 % mehr Menschen.

Wir kommen der Sache schon etwas näher, wenn wir uns die Sozialstruktur der Schaumburg-Lippischen Ämter 1836 ansehen, wobei wir nur die Hausbesitzer erfassen können. In den beiden Ämtern Bückeburg und Stadthagen waren 47,5 bzw. 53 % der Haushalte Landwirte, Handwerker 26,5 bzw. 15 %. Im Amt Hagenburg waren dagegen nur 32 % der Haushalte solche von Landwirten, aber 40 % solche von Handwerkern.

Sieht man sich die Dörfer genauer an, dann bildeten nur in zweien die Ackerleute, wie die Landwirte damals hießen, die absolute Mehrheit der Dorfbewohner, /Wiedenbrügge und Altenhagen), in drei weiteren waren sie die größte Gruppe (Großenheidorn, Lindhorst und Großenheidorn). Dagegen war das Handwerk mit über 60 % besonders stark vertreten in Steinhude, Nienbrügge und Niedernholz, bildete aber auch in Bergkirchen, Hagenburg, Pollhagen und Schmalenbruch die größte Gruppe.

Das Handwerk war also in der Seeprovinz die entscheidende ökonomische Basis. Grundlegend war dabei die Leinenweberei, die praktisch in allen Orten betrieben wurde, wobei nur in Steinhude und Großenheidorn die höherwertige Drellweberei betrieben wurde. Aus Bergkirchen gab es übrigens vom dortigen Pastor eine interessante Klage: „Die Gemeinde Bergkirchen müßte volkreicher sein wie sie ist, man duldet aber keine oder doch sehr wenige Einlieger, daher auch Tagelöhner fehlen.“

Die mit Abstand meisten Leinenweber lebten in Steinhude - für Sie hier sicher keine Überraschung, aber sie waren im gesamten Amt Hagenburg zu finden. Nun gibt es noch immer gern die Vorstellung, dass die Leinenweberei eben ein typisches ländliches Gewerbe war. Aber das täuscht. Die Leinenweberei war im vorindustriellen Europa ein verbreitetes Gewerbe, das für die Erwerbsverhältnisse der ländlichen Bevölkerung von großer Bedeutung war und dass - und hier wird es spannend - exportorientiert war! Händler exportierten die hiesige Leinwand über Hamburg u.a. nach Skandinavien, andere Regionen belieferten den transatlantischen Raum.

Oder wie es in der Geschichte Steinhuder heißt:

„Die Steinhuder Weber und ihre Frauen beförderten das Linnen (Leinen) und den Drell in Kiepen oder mit Planwagen nach Hamburg und ins Holsteinische. Das Leinen ging damals bereits über Hamburg oder Bremen nach Holland, ja sogar nach Spanien und Portugal. Die Bemühungen des Grafen um diesen Wirtschaftszweig zeigten sich auch darin, dass er versuchte, den Flachsanbau durch Gründung einer herrschaftlichen Leinenmanufaktur zu fördern.“

Mehr noch: In den 1970er Jahren setzte eine internationale Debatte um die „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ oder die „Proto-Industrialisierung“ ein. Forscher in Europa hatten festgestellt, dass es Regionen gab, in denen die Mehrheit der Bewohner nicht von der Landwirtschaft lebten, sondern von der Leinenweberei. Diese belieferte aber nicht lokale Märkte, sondern überregionale Märkte. Gleichzeitig gab es gleichsam korrespondierende Regionen, in denen die Landwirtschaft auf die Nachfrage aus den Orten mit Leinengewerbe reagierte. Ansatzweise läßt sich dies auch für Schaumburg nachweisen, so waren in der Grafschaft Schaumburg die Orte mit einem hohen Flachsanbau nicht solche mit einem hohen Anteil an Leinenweber.

Viele kennen die Geschichte der Weber, der verzweifelte Aufstand von Webern, die nicht mehr genug zum Leben hatten. Aber dieses Beispiel führt ein wenig in die Irre. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert boten die Leinenweberei und auch die Spinnerei den dringend benötigten Erwerb der unterbäuerlichen Schichten, die sonst keine Einkünfte hatten. Nicht zufällig förderte Graf Wilhelm das Spinnen und Weben auf dem Lande und nicht zufällig wurde die Leinenweberei auf dem Lande als zünftiges Handwerk betrachtet, während sonst nur in den Städten zünftiges Handwerk betrieben werden durfte.

Die Seeprovinz war „die“ Region in Schaumburg, in der diese spezialisierte, für überregionale Märkte agierende Tätigkeit ausgeübt wurde.

DIE MILITÄRISCHE LANDSCHAFT


Sie alle kennen den Wilhelmstein, gerade jetzt ist er wieder in aller Munde - ein interessanter Touristenmagnet. Aber er hat eine andere, eine ganz andere Geschichte. Der Wilhelmstein war ernst gemeint, bitter ernst. Die meisten kennen vermutlich die Geschichte dieser Insel. Graf Wilhelm hat sie erbauen lassen - und nicht aus Jux und Dollerei. Er hatte Angst um „seine“ Grafschaft, denn schon relativ kurz nach seinem Regierungsantritt hatte er erfahren müssen, dass sie gefährdet war. Der Lehnsherr Hessen-Kassel lag auf der Lauer und wartete nur auf eine günstige Gelegenheit. Wie reagierte Graf Wilhelm darauf? Nun, er suchte eine Lösung, die einerseits durchaus zeittypisch war, die aber andererseits etwas sehr Eigenes darstellte. Beginnen wir mit letzterem.

Wilhelm war sich darüber im Klaren, dass sich ein Kleinstaat wie Schaumburg-Lippe nicht allein gegen einen mächtigen Nachbarn wie Hessen-Kassel wehren konnte. Andererseits gab es andere Nachbarn, die es nicht einfach zulassen würden, dass Schaumburg-Lippe einfach von Hessen-Kassel okkupiert würde. Also musste er er einerseits für die anderen Nachbarn, Preußen und Hannover, eine gewisse Bedeutung haben und er musste andererseits erreichen, dass das kleine Land nicht einfach überrannt werden würde.

Für den ersten Punkt entschied er sich, eine eigene kleine Truppe aufzubauen, die gleichwohl vergleichsweise schlagkräftig war. Diese Schaumburg-lippischen Soldaten waren im Lande keineswegs beliebt, obwohl Wilhelm der Ansicht war, dass jeder Untertan sich für sein Land einsetzen sollte. Aber viele „Wehrpflichtige“ zogen es dennoch vor, lieber das Land zu verlassen, als in der Truppe zu dienen. Trotz der hohen Kosten setzte Wilhelm auf eine militärische Lösung. Eine wichtige Ergänzung bildete dann im Siebenjährigen Krieg der Bau des Wilhelmsteins - besonders unbeliebt bei den Steinhudern, aber auch sonst ein teures, sehr teures Abenteuer. Der Wilhelmstein war nach damaligen Maßstäben nicht zu erobern, eine Insel im kleinen See, die weit genug besonders vom Schaumburg-Lippischen Ufer entfernt lag. Damit nicht genug: Hier sollte eine neue Generation von Offizieren herangezogen werden, der auf der Insel betriebene Unterricht für junge Kadetten, Scharnhorst war einer von ihnen, war wegweisend. Die erste Kriegsschule in Deutschland!

Doch damit nicht genug, denn die Region des Steinhuder Meeres und seines Südufers barg noch eine ganz andere Möglichkeit. Zwar ging hier eine wichtige Poststraße durch - dazu gleich noch mehr - aber aus bückeburger Sicht war die Region recht abgelegen, das Hagenburger Moor machte sie noch schwieriger zu passieren. Nun war das 18. Jahrhundert auch eine Zeit, in der man sich das erste Mal daran machte, vorhandene Landschaftsräume zu verändern und neue zu gestalten. Bekannt ist die Kolonisierung des Oderbruchs oder die Landschaftsgärten. Wilhelm versuchte nun auch, eine neue „Landschaft“ zu kreieren, indem er etwas tat, was einerseits logisch und dennoch völlig neu war. Der Wilhelmstein brauchte eine Basis am Seeufer. Diese musste einen Hafen haben und befestigt sein. Theoretisch hätte Steinhude zu einer Seefestung ausgebaut werden können. Aber nicht dort sollten die Anlagen entstehen, sondern - im Hagenburger Moor! Also in einem eher undurchdringlichen Gebiet. Dazu wurde nicht nur südlich vom Wilhelmstein eine befestigte Hafenanlage geplant, sondern darum gleich eine - befestigte Landschaft! Hier sollten Bauern-Soldaten neue Höfe anlegen, Kartoffeln pflanzen, Obst ernten und gleichzeitig in militärischen Anlagen wie Schanzen die Verteidigung des Gebietes übernehmen.

Dem Ganzen haftete etwas an, was auch für andere Projekte dieser Zeit galt: Etwas unüberlegt und mit den damaligen technischen Möglichkeiten kaum zu realisieren. So versank das Haus des Ingenieurs Praetorius am Westende des Feldes, am Organistengraben, nach wenigen Jahren im Moor. Zwar beendete der frühe Tod des Grafen dies Projekt - sein Nachfolger sammelte gleichsam die Reste schnell ein - , aber auch sonst wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass diese befestigte Landschaft noch lange überlebt hätte.

Damit aber nicht genug. Hier am Südufer des Meeres gab es viele freie, landwirtschaftlich nicht intensiv genutzte Flächen und diese wurden auch sonst für militärische Zwecke genutzt. Zwischen Steinhude und Großenheidorn zeigen zeitgenössische Karten Artilleriestellungen. Dort wurde die Lieblingswaffe des Grafen getestet. Manöver wurden außerdem in diesem Gebiet geplant und wohl auch durchgeführt. Kleines Details am Rande: Der Wiedenbrügger Berg wurde offenbar in seiner taktischen Bedeutung nicht wirklich erkannt, auch wenn er in Manöverplanungen einbezogen wurde. Wer den beherrschte, hatte zumindest das Wilhelmsteiner Feld unter Kontrolle. Aber das ist nur eine Nebenbemerkung.

Hier wurde als um 1770 eine Zukunft erdacht in Form einer Ideallandschaft, eine Zukunft, die so aber nie wirklich realisiert wurde.

An dieser Stelle wollte ich eigentlich dies Kapitel beenden, aber dann fiel mir noch etwas anderes ein, was ich aber nur kurz streifen möchte. Östlich von Großenheidorn liegt der Fliegerhorst, erbaut von den Nazis, während des Spanischen Bürgerkriegs von Bedeutung und auch während des Zweiten Weltkriegs. Das Steinhuder Meer war eine wichtige Einflugschneise für alliierte Bomber auf dem Flug nach Hannover und Berlin. Hier fand zumindest teilweise die letzte große Luftschlacht des zweiten Weltkriegs statt. Der Fliegerhorst besteht heute noch. Die militärische Landschaft ist nicht völlig verschwunden …

DIE VERKEHRSLANDSCHAFT


Als ich in den späten 1970er Jahren und dann noch mal 15 Jahre später intensiv Akten des frühen 19. Jahrhunderts in Bückeburg bearbeitet habe, fand ich in den Schreiben der Regierungsmitglieder Hinweise auf eine sehr geringe Kenntnis der Verhältnisse in der Seeprovinz. Georg Wilhelm, der Hagenburg dagegen sehr gut kannte, musste dann korrigieren. Andererseits: Wenn um 1900 die fürstliche Familie von Hagenburg nach Bückeburg reisen wollte, musste sie den Weg über Wunstorf nach Bückeburg nehmen. Mit anderen Worten: Auch wenn Schaumburg-Lippe klein ist, in Nord-Süd-Richtung liegen und lagen schon ein paar Meilen zwischen der Residenzstadt Bückeburg und dem Steinhuder Meer und - was noch wichtiger ist - es gibt und gab keine gute Verkehrsverbindung zwischen diesen beiden Punkten des Fürstentums und des Freistaats. Dabei ist unsere Region verkehrstechnisch gut erschlossen - nur in der „falschen“ Richtung. Hier verlief eine wichtige Poststraße, hier lag mit der Engelkeschen Poststation eine wichtige hannoversche Poststation, aber diese verband das Gebiet von Loccum, Stolzenau mit Wunstorf und Hannover.

Innerhalb Schaumburgs nahm deshalb die „Seeprovinz“ einen Sonderstatus ein. Sie war weder mit Stadthagen noch erst recht mit Bückeburg eng verbunden, dagegen sehr mit Wunstorf. Das zeigte sich Mitte der 1830er Jahre, als in Schaumburg-Lippe über einen Anschluss an den hannoverschen Steuerverein oder den preußischen Zollverein nachgedacht wurde. Aus dem Amt Hagenburg wurde damals eindringlich auf die engen Verbindungen mit Wunstorf und Hannover verwiesen. Das Getreide aus dem Amt wurde nach Nienburg, Stolzenau oder Neustadt a.Rbge. verkauft, die Leinweber und Garnhändler brauchten den hannoverschen Markt.

Eindringlich verwies das Amt auf die engen Beziehungen nach Hannover:

„Die ackerbautreibende Klasse der Einwohner des Amtes Hagenburg kann also des Verkehrs mit dem Königreich Hannover nicht wohl entraten, besonders wenn man erwägt, daß nicht allein ihr Korn, sondern auch alles, was im ländlichen Haushalte gewonnen wird, als Butter, Eier, Schinken etc. dort seinen Marktplatz findet. Für diese letztgedachten Artikel kommt jährlich von Hannover ... eine sehr bedeutende Summe ins Amt Hagenburg, bedeutender als dies vielleicht auf den ersten Blick erscheinen möchte. Woher sollten die minderbegüterten Eingesessenen, welche nur etwa so viel Korn gewinnen, als zu ihrem eigenen Verbrauch nötig ist, das nötige Geld zu Abtrag der herrschaftlichen Gefälle nehmen, wenn nicht der Verkauf der obengedachten Haushaltsartikel ihnen solches verschaffte. Jeder schränkt den Verbrauch an dergleichen in seinem Hauswesen so viel nur irgend möglich ein, und die wenigen Groschen, welche er wöchentlich einigemale von den Aufkäufern für diese Erzeugnisse erhält, sammeln sich bald zu Talern und sind ihm eine Hilfsquelle von der allergrößten Wichtigkeit, deren etwaiges Versiegen den peinlichsten Notstande herbeiführen würde.“

Kein Zweifel, die Seeprovinz war nach Hannover und Wunstorf ausgerichtet! Insofern war es folgerichtig, wenn Ende des 19. Jahrhunderts eine Bahnverbindung von Wunstorf nach Rehburg und sogar bis Uchte geplant und gebaut wurde. Die Geschichte der Meer-Bahn ist vermutlich hier gut bekannt, deshalb sei ein wenig auf die Rahmenbedingungen eingegangen. Für die Zeitgenossen der ersten Jahrhunderthälfte war klar gewesen, dass Bahnbau und vor allem der Anschluß an die Bahn von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der eigenen Region, des eigenen Ortes war. Allerdings waren um die Zeit der Reichsgründung die großen Städte schon alle an ein überregionales Eisenbahnnetz angeschlossen. Mit dem Wachstum der Städte und der neuen entstandenen Industriegebiete wie besonders dem gar nicht so weit entfernt liegenden Ruhrgebiet drohte etwas, was vielen Konservativen Kopfschmerzen bereitete: die Entleerung ländlicher Räume. Dabei wurden hier doch auch mehr Arbeitskräfte gebraucht. Die Landwirtschaft profitierte nicht unerheblich von dem Nachfragesog der neuen Zentren und dieser ließ sich nur mit mehr Arbeitskräften bewältigen. Zudem brauchten die landwirtschaftlichen Betriebe, aber auch zugeordnete Unternehmen wie Molkereien einen billigen Zugang zu den entfernter liegenden Märkten.

Um dem zu begegnen, wurde beschlossen, den Bahnbau auch in die Regionen zu bringen, in denen sich die bisherigen teuren Maßnahmen nicht rentierten, hier sollten keine teuer projektierten und zu unterhaltenden Normalbahnen entstehen, sondern Nebenbahnen, Kleinbahnen mit geringerer Spurweite, die ohne große und teure Baumaßnahmen teilweise direkt neben den Straßen errichtet werden konnten. 1892 wurde so das preußische Kleinbahngesetz veröffentlicht. Am Anfang der Planungen für die Meer-Bahn (und anderer Kleinbahnen) stand also eine politisch-gesellschaftliche Entscheidung!

Für die Region am Südufer des Steinhuder Meeres, die wie wir schon gesehen haben, an einer Verkehrsachse lagen, boten sich damit neue und erfreuliche Möglichkeiten, etwa für die Landwirtschaft und die verarbeitenden Betriebe wie die Molkerei im Rehburger Gebiet. Allerdings sollte die von hannoverschen Kommunen gewünschte Bahnlinie zwischen Wunstorf und Rehburg, ja Stolzenau und Uchte gelegene Strecke über Schaumburg-lippisches Gebiet führen. Und da lag zeitweise das Problem. Bückeburg hatte kein sonderliches Interesse an dem Ausbau dieser Strecke. Immerhin gelang 1898 die Fertigstellung, wobei auf Schaumburg-lippischem Gebiet die Bahn eine eigene Trasse hatte, in Klein-Heidorn dagegen nicht - das sollte sich später rächen.

Die Idee stammte nicht aus Bückeburg - dort war die verkehrliche Erschließung dieser Region nicht interessant. Sie kam aus Hannover, sie folgte den Verkehrs- und Handelspfaden der Zeit vor der Eisenbahn. Die Meer-Bahn hatte aber noch eine andere Wirkung - sie förderte nicht nur den Tourismus - darauf ist gleich zurück zu kommen - sie schuf zugleich eine kleine Region. Durch die Bahn wurden vor dem Autoverkehr die Beziehungen zwischen den Orten an der Strecke intensiviert. Zugleich arbeiteten dort viele Arbeitnehmer aus der Region, Lokführer, Heizer, Schaffner, Streckenarbeiter, Schlosser, Büromitarbeiter der Bahn stammten aus den umliegenden Orten. Für die einfachen Jungs vom Land bot die Meer-Bahn die Chance zu einer guten handwerklichen Ausbildung und einem begrenzten sozialen Aufstieg. Die Bahn war ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Arbeitgeber, der vorwiegend junge Männer aus der ganzen Region zusammenbrachte. Das ist heute schon wieder Geschichte. Sie ermöglichte nun auch den Besuch weiterführenden Schulen, etwa des Hölty-Gymnasiums in Wunstorf.

Allerdings krankte die Bahn wie viele der im Kaiserreich gebauten Bahnen dieser Art an dem grundlegenden Problem: Die Gesellschafter waren nicht kapitalkräftig genug, die Trasse teilweise entlang der Landstraßen war ungünstig, Geld für Modernisierungen war nicht vorhanden. Allerdings hatte man auch Glück, denn - darauf komme ich gleich noch - die Bahn hatte einen ganz anderen Effekt als den geplanten, sie brachte Touristen ans Meer, besonders nach Steinhude, aber auch in das benachbarte Bad Rehburg! Laut Landeszeitung begann übrigens das schönste Stück der Strecke direkt hinter Hagenburg:

„Nachdem das in saftigstem Grün prangende Hagenburger Holz passiert ist, sieht man zur Rechten stets das Meer, zur Linken über wohlbestallte Fluren den schön bewaldeten Atje- und Düdinghäuser Berg und danach deren Bergkirchener Höhenrücken mit dem malerischen Bergdorf Bergkirchen.“

Doch das reichte auf die Dauer nicht, die Konkurrenz der Straße wurde in den 1950er Jahren immer größer. Erst wurde der Dampflokbetrieb eingestellt, dann auch der mit Triebwagen. Zwei Kleinlokomotiven tuckerten dann noch eine zeitlang über die Schienen und transportierten Güterwagen - dann war Schluß. Seit den 1930er Jahren hatte die Meer-Bahn aber auch schon Busse eingesetzt und diese hatten nach und nach die eigentlich Bahn abgelöst.

DIE TOURISTISCHE LANDSCHAFT


„Aus diesen allgemeinen Bemerkungen über das Steinhuder Meer geht nun zwar hervor, daß es nicht zu den sogenannten „romantischen“ oder „pitoresken“ Seen gerechnet werden kann. Einem Dichter oder Maler scheint es nur eine geringe Ausbeute zu verheißen.“

So beschrieb in den der bekannte Geograph Johann Georg Kohl das Steinhuder Meer. Und das klingt nicht besonders verheißungsvoll, aber tatsächlich entwickelten sich die Dinge ein wenig anders.

Die Orte am Südufer des Steinhuder Meeres verbanden zwei Gegensätze: einerseits relativ abgelegen und ein wenig verwunschen (wovon heute nur noch sehr wenig übrig geblieben ist), andererseits relativ gut erreichbar. Mit dem Bau des Wilhelmsteins hatten sie zudem eine besondere Attraktion zu bieten. Und mit der Meer-Bahn den Anschluß besonders an das benachbarte Hannover.

Gleichsam den Anstoß für einen Steinhuder Meer-Tourismus1 gab der Wilhelmstein, wobei nicht nur die Insel frühe Besucher faszinierte, sondern der seltsame, aber überaus interessante Graf Wilhelm, der Kanonengraf, der Held von Minden und Portugal, dieser Eigenbrötler, der sich mit Philosophen umgab, in der Welt herum gekommen war, aber seinem Kleinstaat eng verbunden blieb. Wir sind dank Klaus Fesche, der das Fremdenbuch sorgfältig ausgewertet hat, über die ersten Besucher gut unterrichtet. Zu den ersten gehörte der uneheliche Sohn Georgs II. und spätere Reichsgraf v. Wallmoden-Gimborn, der sich nach 1787 dem Tod der Fürstin Juliane um die kleine Grafschaft noch verdient machen sollte (als Vormund des Erbgrafen Georg Wilhelm). Es waren in den ersten Jahren, noch zu Lebzeiten des Grafen vor allem Adelige und Militärs, die den Wilhelmstein besuchten.

Mit dem Tod Wilhelms 1777 und noch mehr nachdem die Festung tatsächlich 1787 einer hessischen Belagerung standgehalten hatte, wurde die Insel regelrecht berühmt - wenn wir es nicht genauer wüßten, müsste die Idee zu Asterix und Obelix … aber nein, lassen wir das.

Der Tourismus zum Meer nahm im 19. Jahrhundert weiter zu, zwar langsam, aber doch stetig, mit wechselnden Schwerpunkten. Die große Zeit begann aber mit dem Bau der Steinhuder Meer-Bahn. Der Zeitpunkt der Eröffnung war günstig gewählt, denn im benachbarten Hannover hatte in den guten Jahren des Kaiserreichs sich ein neues Bürgertum entwickelt, das Natur und Freizeit haben wollte. Mit dem Steinhuder Meer stand ein attraktives Naherholungsgebiet direkt vor der Haustür zur Verfügung. Dank der Staatsbahn und dann der Meer-Bahn war dies schnell zu erreichen. Auch wenn schon früh viele mit dem Auto kamen, andere mit dem Fahrrad, so war doch die Meer-Bahn lange Zeit der wichtigste Verkehrsträger für die Touristen.
Und dann noch die verwandelte Region …
Ein Fazit

Als gebürtiger Wiedenbrügger und damit Schaumburg-Lipper war diese Reise zumindest für mich eine wichtige Entdeckungsreise, auf der hoffentlich einige von ihnen mit gekommen sind. Die einzelne Aspekte waren lange bekannt, aber in den hier gezeigten Perspektiven wird noch einmal deutlich, wie sehr die „Seeprovinz“ in Richtung Wunstorf und Hannover ausgerichtet war. Für Schaumburg-Lipper war sie eine entfernt liegende Provinz, geeignet für eine hübsche Sommerresidenz und dann für militärische und landschaftliche Experimente. Aber das Leben der Menschen war anders ausgerichtet. Auch wenn man sich als Schaumburg-Lipper fühlte und identifizierte, so war doch das wirtschaftliche und soziale Leben nach Westen und nicht nach Süden ausgerichtet. Die Steinhuder Meer-Bahn war kein Zufall, sondern sie verweist auf die relevanten räumlichen Beziehungen dieser Region. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die Gebiets- und Verwaltungsreform, die Teile der Seeprovinz Wunstorf zugewiesen hat, war für eine Schaumburg-lippische Seele vielleicht schmerzhaft, aber sie spiegelte nur das wider, was längst Realität war.

Literatur

Fesche, Klaus: Auf zum Steinhuder Meer!: Geschichte des Tourismus am größten Binnensee Niedersachsens, Bielefeld 1998 (Kulturlandschaft Schaumburg 2).
Wiegmann, Wilhelm: Heimatkunde des Fürstentums Schaumburg-Lippe: für Schule und Haus, Stadthagen 1912. Online: <http://gei-digital.gei.de/viewer/resolver?urn=urn%3Anbn%3Ade%3A0220-gd-9077039>.
Ochwadt, Kurt (Hg.): Das Steinhuder Meer. E. Sammlung von Nachrichten u. Beschreibungen bis 1900, Hannover 1967.

Kleine Schaumburger Geschichte

Vor einiger Zeit habe ich angefangen, eine kleine Einführung zur Schaumburger Geschichte zu schreiben, die ich hier verlinke: Kleine Geschic...